Ein Brief

Sehr geehrte Frau,

sicherlich denken Sie, das hier sei ein Liebesbrief. Das ist es auch, aber auch etwas mehr als das. Heute schreibt Ihnen nicht der liebende José, sondern ein Organ von ihm. Er nennt mich corazón. Ja, ich bin es, das Herz! Ich bin das wichtigste Körperteil, das er hat, noch vor Elena, diesem verschrobenen Weib. Verzeihen Sie mir, lassen Sie mich etwas von Ihrer kostbaren Zeit stehlen.José… ich kenne ihn schon lange. Bis wir zu einer Verständigung gefunden haben, ist viel Zeit vergangen. Viele Jahre hat er nicht auf mich gehört. Ich wurde von seiner Umwelt misshandelt. Erst waren es Risse, dann kamen Brüche. Ich wurde zerrissen, gebrochen, bis nichts als Scherben übrig waren. Mein Pochen, meine Fluchtversuche, die ich mit ihm unternehmen wollte, hat er missverstanden, hat nicht mehr auf mich gehört. Ja, auf nichts und niemanden. Auf einen seiner Nachtflüge, wie er sie oft in seiner Verlorenheit unternommen hat, hat er es verstanden. Der kleine Prinz brachte es ihm näher: Nur mit dem Herzen sieht man gut.

Drei ganze Jahre hat er sich Zeit genommen, die Scherben zusammenzukleben, mich zu pflegen. Zeiten voller Zweifel, ob es der richtige Weg sei, bis ich wieder zu meiner Sprache kam. Aber erst wirklich habe ich begonnen, als er Sie kennenlernte. Ich danke Ihnen dafür. Wissen Sie, warum er es liebt am Ohr geküsst zu werden? Der selbe Grund, warum er Musik gerne hört, auf Worte so achtet. Es ist der direkte Weg in sein Herz, lässt mich stark fühlen und befreit mich. 

Mit mir hat er sich einen schwierigen Weg ausgesucht. Ich habe keine Augen, die ihm den Weg zeigen können. Keine Füße, die den Weg mit ihm gehen können. Keine Hände und keine Arme, die ihn auffangen können. Nichts, außer das Pochen. Vielleicht können Sie diesen Punkt für mich übernehmen, denn besonders Ihre Lippen kann ich nicht ersetzen. Sie bedeutet ihm sehr viel, werte Frau. 

XXX

Corazón 

Ein Gedanke zu “Ein Brief

  1. Kein Weg ist länger als der vom Kopf zum Herzen.

    … aus dem alten China

    Ich kenne diesen Weg und habe lange gebraucht um die feinen Signale wahrzunehmen.

    Ein hoffnungsvoller Text für mich, Danke

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