Es war wieder die Arbeitswoche eines Besessenen gewesen. Um nicht vollständig entrückt zu wirken beendete ich sie an einem Freitag Nachmittag. Die kalte Novemberluft verschaffte etwas Abkühlung als ich aus meiner schwarzen Bestie ausstieg. Schnellen Schrittes ging ich in den Lebensmittelladen, um einige wenige Dinge für das Wochenende zu erstehen. Brauchte keinen Einkaufswagen und keine Tüten, trug das Kleinod in meinen Armen über den Parkplatz. Der Sonnenuntergang hatte bereits angesetzt, die blaue Stunde war nicht mehr viel. In der anbrechenden Dunkelheit erfasste ich dich dennoch sofort; wie du da standst in direkter Nähe zu meinem schwarzen Gefährt. Ich schritt an dir vorbei; arrogant mag mein Blick gewirkt haben. In fließenden Bewegungen öffnete ich die hintere Wagentür, schmiss die Besorgungen achtlos auf den Rücksitz und schloss sie sogleich wieder, während ich mich zu dir drehte.  In dem Moment in dem ich selbst dabei war einzusteigen, kam deine Ansprache: „Ich brauche Geld und will nicht betteln. Darf ich das Auto putzen?“ Selbst wenn der Himmelskörper zur Stunde nicht mehr das hellste Licht spendete war zu erkennen, dass der saphirschwarze Lack gewaschen war; die Politur das letzte Blaue der Stunde reflektierte.
Ich musterte dich und hoffte, dass mein Blick nicht allzu bedrohlich wirkte. Deine Aussprache und dein Aussehen verrieten mir, dass du nicht aus diesem Land warst, mir aber näher warst als jeder andere auf diesem Parkplatz. Dein Kapuzenpullover war dir zu groß; wirkte wie eine olivgrüne Kutte unter der rabenschwarzen Locken zum Vorschein kamen. Deine sandfarbene Kargohose längst verschlissen; konnte dich all das im anbrechenden Winter nicht wärmen. Du warst gerade dabei deinen Rucksack zu öffnen. Putzmittel wurden offenbar, Graças a Deus keine Flaschen mit Alkohol. Dennoch winkte ich ab; das Auto war bereits gewaschen. Mein Blick lag weiterhin auf dir. Dein Gesicht verkrümmte sich; in deinen Augen konnte ich Enttäuschung lesen, die sich mit Verzweiflung verband. „Aber bitte, ich brauche Geld. Es ist so kalt.“ Mit diesem zweiten Satz bestätigte sich mein Gefühl. Dein Zungenschlag klang nach ferner Nähe. Klangfarbe, die meine Sehnsucht stillte und gleichzeitig Teil meiner Heimat war. Saudade. „Ich habe so viele gefragt, keiner will mir Geld geben. Ich will dafür arbeiten. Am schlimmsten sind diese reichen Leute, kalt wie Steine.“ Mir war nicht klar, ob ich mich angesprochen fühlen sollte in Anzug und Krawatte. Dunkelblau wie der Atlantik in der tiefen Nacht. Dunkle Farben; kein Trauerspiel, sondern Sinnbild meiner Seele. „Das ist es doch gar nicht“, entgegnete ich dir. „Es ist nur so, dass mein Auto gewaschen ist. Wenn du mir helfen willst, dann erzähle mir etwas über dich. Ich will verstehen.“ Du sprachst davon, dass du dich so durchschlagen würdest. Dass du inzwischen obdachlos wärst, auf der Straße. Du nicht von hier kommen würdest, sondern anderen Orten, nicht weit von hier. Dass dir kalt sei, du keinen Unterschlupf hättest und der Winter noch jung sei, schlimmeres auf dich wartete. Weil das Gefühl einfach nicht abließ, mir die Ferne weiterhin bewusst war, wollte ich wissen, ob du andere Wurzeln hast. Du warst überrascht von der Frage, konntest trotz des Anzugs an meinem kohlschwarzen Haar und dichten Vollbart erkennen, das uns etwas gemein war. „Aus Portugal komme ich.“ Die Ferne, die in mir erwidert wurde, war so unglaublich nah. Wie tausend Glockenschläge spürte ich es in mir; es war als hätte man mich aus einem Traum geweckt. Dein Teint wie die Korkeichen des Montados, Augen braun wie der Kalkstein der Algarve und dein Kapuzenpullover wie die immergrünen Zweige des Pinheiro. So warst du und bleibst du in meiner Erinnerung. Erzählungen von der Kindheit. Einem Vater, der schwer gezeichnet als Soldat aus Angola zurückkam. Von den Drogen die es danach brauchte und den Missbrauch an der Familie nicht verhinderten. Wie sehr es alte Erinnerungen in mir aufriss. Von der Großmutter; wirklich eine Bruxa aus Lissabon, die dich verflucht haben soll und die Dämonen geboren haben soll. Ausgewandert nach Deutschland mit 9 Jahren; seit 20 Jahren enttäuscht worden von diesem Land. Und Dämonen begleiten dich noch immer. Hast versucht Fuß zu fassen und zu arbeiten wären sie nicht gewesen. Wie sehr ich mich in dir finden konnte, im José von damals. In deinen Augen sah in den kleinen Kindersoldat der ich einst war; nur warst du einer geblieben. Du sprachst von der Schizophrenie und den Medikamenten, die dich müde machten. Die dich lähmten und nicht deine inneren Dämonen. Konnte das Glühen in dir spüren, mich daran verbrennen. Du sprachst von der Liebe, für die du alles
aufgegeben hattest; dich aber letztlich betrogen hatte. Unsere Sprachen wechselten sich ab zwischen deutsch, spanisch und portugiesisch. Manchmal, weil du das richtige Wort nicht finden konntest, oft, weil wir das Gefühl unserer Seele in der Sprache beschreiben wollten, die es am besten erfasst. Für was du das Geld genau verwenden willst? Deine Augen wurden ein Leuchten. „Oxalá, um saco de formier.“ Ein Schlafsack war es, der dir Tränen in die Augen trieb. Du hattest schon etwas Geld gespart, es fehle nicht mehr viel. Packte dich am Arm, „Vamos.“, sagte ich dir. Was nur ein kurzer Fußweg werden sollte dauert mit dir länger. Ein Fuß war lahm, gezeichnet von deinem Kampf mit deinem inneren Scheusal und den widrigen Nächten in der Wildnis. Es machte nichts, blieb uns mehr Zeit miteinander zu sprechen. Du warst voller Dank mir gegenüber ohne zu wissen was ich vorhatte. Alleine, dass wir uns heute gefunden hatten und wir diesen Weg gingen war schon mehr als jeder andere getan hatte. Wir erreichten einen Bankautomaten. Es war mehr als unnötig, bat ich dich doch draußen zu warten. Ich bediente die Tasten und die Anzeige offenbarte mir, dass wir uns tausend Schlafsäcke kaufen konnten. Ich schaute zu dir durch die Glastür der Bank. Unschuldig und erwartungsvoll, trafen deine halbwirren Augen auf mich. Der Schrank spuckte ein kleines Bündel Geldscheine aus. Draußen übergab ich dir das Geld ohne viel Pathos, es bedeutete mir nichts. Für dich war es tatsächlich, als ob du tausend Betten kaufen konntest. Danksagungen folgten Umarmungen; tiefer Dank obwohl ich dir noch gar nicht den wahren Schatz offenbart hatte. Auf dem Weg zurück zum Parkplatz erzählte ich dir von meiner Kindheit. An deinem Stummbleiben konnte ich erkennen, was es in dir machte. Dass mein Glühen deine Dämonen zurückdrängte; ich dir Wärme spendete. Von meinem Ausweg und all dem was ich erreicht hatte. Von meinen Zielen, die mehr als ein Schlafsack waren.
Wir waren zurück am Ort der Zusammenkunft. Selbst wenn es unwirklich erschien, drängte die Zeit zu einem Abschied. Das Geld, welches ich dir gegeben hatte, reichte für einen Schlafsack, ein Abendessen und eine Zugfahrt wohin du wolltest. Selbst dann hättest du noch etwas übrig gehabt. Nachdem ich dir den Wunsch für einen Schlafsack erfüllt hatte, wollte ich zum Adeus wissen, was du jetzt erreichen wolltest. Tiefe Sehnsucht sprach aus dir ein letztes Mal: „Oxalá, uma tenda.“ Und hoffentlich konnte ich dir dieses Zelt sein.

José David da Torre Suárez

Diese Geschichte hat sich in Darmstadt so zugetragen. Irmão, wenn du das liest, so melde dich.

algarv

Ein Gedanke zu “Oxalá, uma tenda

  1. Es gibt keine zufälligen Begegnungen. Alles ist von Gott niedergeschrieben und manche Begegnungen sind Erinnerungen… wunderschön geschrieben. Ich hoffe Irmão meldet sich.

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